26.07.2023

Babyn Yar

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  Fast vier Stunden heute verloren, wegen Air Raid - Alarmen. Zuerst von 13:30 - 14:48 Uhr, und jetzt noch einmal von 17:54 - 20:23 Uhr.

Und weil mein Notebook so rachitisch beinand' ist (geht nur mehr mit externem Keyboard und Maus, und das Scharnier zum Auf/Zuklappen ist defekt), kann ich vernünftig damit nur am Tisch arbeiten.

Naja, bin ich halt außertourlich zum Lesen gekommen!

Das Thema "Babyn Yar" ist ähnlich zäh. Es gibt eine offizielle Seite der Gedenkstätte, auf der ich auf die Schnelle noch nicht einmal Information darüber fand, ob man da immer hin kann, ob es offen hat, ob man Eintritt zahlen muss,... Aber vielleicht bin ich auch blind und blöd.


Das verstörende Ereignis selbst nimmt in der deutschsprachigen Holocaust-Aufarbeitung relativ wenig Platz ein, dabei ist es eines der größten Massaker des zweiten Weltkrieges:

Hier wurden binnen zwei Tagen (29./30.09.1941) sage und schreibe 33.771 Jüdinnen und Juden erschossen und in den darauffolgenden Jahren der Besatzung noch einmal etwa 100.000 Menschen: geistig Behinderte, Roma, Kriegsgefangene, und alles, was den Nazis sonst nicht zu Gesicht stand.

Es gab in unmittelbarer Nähe auch das KZ Syrez, aus dem später Insassen herangezogen wurden, um die Gräueltaten zu vertuschen: Die Massengräber wurde wieder geöffnet, und die sterblichen Überreste verbrannt.


Aber anstatt dass es danach eine Aufarbeitung gab (obwohl es sogar eine Handvoll Überlebende gab), wurde in den folgenden Jahrzehnten - unter sowjetischer Herrschaft - jegliche Erinnerung an das Massaker systematisch unterdrückt. (Die antisemitische Einstellung eines Teils der Kyiver Bevölkerung war auch nicht hilfreich.)

Die Schluchten wurden als Mülldeponie verwendet, mit dem Ziel, sie zuzuschütten und einzuebnen.

Das ging gründlich daneben, als im März 1961 die Dämme brachen und das Gemisch aus Abwasser, Müll, Geröll, Schlamm und menschlichen Überresten den Stadtteil überfluteten und noch einmal eine gehörige Anzahl an Todesopfern forderte. Die offiziellen Zahlen der Sowjets (145 Personen) ist wohl um mind. ein 10-faches zu niedrig.

Wie üblich haben die Sowjets versucht, alles zu vertuschen. Das scheint denen ihr zweites großes Talent zu sein, gleich nach "Menschen deportieren".

Soweit, so eindeutig.


Auch vor Ort ist die Informationslage... lückenhaft. Denn nach dem besagten Erdrutsch/Dammbruch wurde die Gegend tatsächlich erfolgreich eingeebnet und zu einem (leicht buckligen) Park umgestaltet - man kann sich also überhaupt nicht so richtig vorstellen, wie das damals wohl ausgesehen hat, und was wo wie passiert ist. Und es gibt vor Ort nichts, was einem die Verwirrung nimmt.

Der Geschichte nach wurden die Menschen Reihe um Reihe am Rand der Schlucht aufgestellt und erschossen, sodass sie in die Tiefe fielen, in Schichten übereinander. Das fanden die Nazis praktisch, denn dann musste man diese Massengräber nur noch zuschütten, ohne sie vorher ausgehoben haben zu müssen.

Durch das Wirken der Sowjets ging die Information verloren, wo genau was passierte - und es gibt Anstrengungen, dieses Wissen mit technischen Mitteln wieder herzustellen. Ich habe eine Webseite gefunden, die zwar titelt Geheimnis gelöst: Location revealed, aber eine Antwort auf meine Frage (wo war das denn nun?) habe ich trotzdem nicht bekommen.

Es soll 2026 (das war allerdings der Zeitplan vor Ausbruch des Krieges) ein spezielles "Museum" eröffnet werden - muss man solange warten, bis man das erfährt?

Immerhin habe ich eine Karte mit den ehemaligen Schluchten gefunden, die ich über den aktuellen Plan gelegt habe, hier ist das Ergebnis:


Rot umrandet ist die Gedenkstätte in ihren heutigen Grenzen. Der blaue Kreis kennzeichnet in etwa die Stelle, an der das neue Museum entstehen soll (1), wobei ich zuerst dachte, das sei exakt der Platz, an dem diese ersten Massenerschießungen stattfanden, allerdings habe ich Grund zur Annahme, dass die Position eher etwas mit dem Widmungsplan des Areals zu tun hat...

Der blaue Punkt rechts vom Kreis markiert die Stelle, an der die Menorah steht (2), die voriges Jahr während eine Bombardements beschädigt worden war, und der untere blaue Punkt im separaten kleineren Areal ist die Stelle, an der 1976 doch ein Denkmal (3) von den Sowjets errichtet wurde, das allerdings Juden/Jüdinnen mit keinem Wort erwähnt, sondern vor allem von Kriegsgefangenen und der Kyiver Bevölkerung allgemein spricht.


Der Gang durch das Areal ließ mich ziemlich verwirrt zurück. Zum einen ist es vor allem ein schöner Park, den viele zum Spazierengehen, Hundeausführen und für eine Mittagspause nutzen. Soweit, so gut.



Die Gedenkstätten sind sehr weitläufig verteilt,...

[Na bravo, 4 Stunden Air Raid Alarm, und JETZT geht die Knallerei los -
weil grad ein Gewitter niedergeht!]



... für außenstehende Unwissende ist vor allem die
"Allee" mit diesen Infotafeln lohnend:
Da wird man systematisch informiert.


Andernorts ist es komplizierter: Durch Googeln im Nachhinein fand ich heraus, dass diese temporäre Installation "Spiegelfeld" heißt. In die Spiegelsäulen wurden Löcher geschossen, sodass man sein eigenes Spiegelbild mit Einschusslöchern sieht.

Wie vieles hier, ist auch diese Installation umstritten.

Was ich verwirrend fand: 1.) Im Wegweiser ist das Kunstwerk nicht erwähnt, man weiß also gar nicht, ob es dazu gehört. 2.) Es ist extra umzäunt, und am Tor - das offen stand - sitzt ein "Wachbeamter". Man weiß nicht, ob man da überhaupt hinein darf. Ich habe mich nicht getraut.







Nicht nur beim "Spiegelfeld" sitzen Wachbeamte, sondern
bei zahlreichen der Monumente.
So auch bei der Menorah (2):



Und bei dieser "Klagemauer": Die zwei Damen links im Bild taten, was auf der Anleitung steht: Man suche sich einen Platz, der einen anspricht, stelle sich vor die Wand (es ragen Kristalle heraus, einer zeigt zum Kopf, einer zum Herz, einer zum Bauch), und dann soll man in sich gehen und auf Antworten warten, die sich einem erschließen.

Der zuerst dezent im Schatten sitzende Wachmann (schwarz gekleidet wie die Kollegen) sprang sofort auf und... beobachtete die beiden mit Argusaugen, dass sie nichts kaputtmachen?


Vermutlich gibt es einen Grund für die Vorsicht, aber die Anwesenheit dieser schwarzen Männer (mehr von denen, als Besucher) hat bei mir eines NICHT erzeugt: Eine besinnliche Stimmung, die mich einläd, in mich zu gehen und zu reflektieren, was hier geschehen ist.

Stattdessen hatte ich das Gefühl, ich bin ein potentieller Verbrecher, der besser gut beobachtet wird und am besten möglichst schnell wieder verschwindet.



Gruselig: schwarzes, blubberndes Wasser


Der Wagen soll an die Roma erinnern, die den Nazis hier auch zum Opfer fielen:



Eine Vorschau auf das Museum (1), das vielleicht (?)
irgendwann (?) gebaut und eröffnet wird?


Auch da gibt es eine Kontroverse, weil anscheinend die Gruppe,
die den Zuschlag für das Projekt bekommen hatte, eine stark
russisch geprägte ist.


Weg zurück zur Metro-Station, und über die Straße...


... in den kleineren Teil des Areals.


Hier bekommt man visuell eindrücklich eine Idee davon,
was hier passiert ist (3):




Auch wenn - wie schon gesagt -
hier ausdrücklich NICHT der Juden und Jüdinnen gedacht wird.





Den Rückweg versuche ich (teilweise) noch einmal zu Fuß -
die Gegenrichtung zum 1. Versuch vom Zoo aus am Sonntag,
der Plan gelingt zur Hälfte: Ich lande da, wo ich hinwill,
aber wieder finde ich nicht den Weg durch den  ☠?☢⚔! - Park.


Die U-Bahnstation liegen hier alle so unfassbar tief,
entsprechend ewig lang sind die Rolltreppen, das ist echt sehenswert.


Und dann durch den Botanischen Garten bei der Shevchenko-Universität...
(plötzlich stehe ich mitten in der Wildnis!)


... zurück zum Hotel.




Und zum Abschluss eine Linksammlung zu dem Thema, ich gebe hiermit auf, das alles zu sortieren. Dieses ganze Projekt "Babyn Yar - Gedenkstätte" wirkt so zerspragelt, unkoordiniert, zerstritten, benutzerunfreundlich, dass es frustrierend ist.

Zwei Bilder, die einem ein Gefühl für die Gegend VOR dem Zuschütten geben:

Schluchten vor dem endgültigen Zuschütten
KZ-Gefangene bei der Arbeit in der Schlucht

Mudslide (in englisch mit guten Fotos!)
Artikel: What Monuments? (Cacophony of Memory)

Info auf deutsch:
merkur-zeitschrift.de
memorialmuseums.org
wikipedia
Holocaust - Enzyklopädie
https://ukraineverstehen.de


Es ist schon spät, ich sollte längst im Bett liegen... Wer Fehler findet, kann sie behalten!


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