01.07.2023

Warum Ukraine? 3/3 - Und was...

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... hat das jetzt eigentlich alles mit der Ukraine zu tun? Zuerst einmal überhaupt gar nichts. Wie gesagt, meine Anwesenheit hier ist eher das Ergebnis von zufälligen parallelen Entwicklungen.

Wie sich bestimmt so manch eine/r erinnert, war ich vor Ausbruch des Krieges eine Putinversteherin und NATO-Skeptikerin, höflich ausgedrückt. Warum? Auch ich hatte eine Phase, in der ich in ein paar zu tiefe Rabbitholes abgetaucht bin, wo ich Dinge nachgeplappert habe, ohne mich wirklich breit informiert zu haben.

Allerdings habe ich glücklicherweise auch einen einigermaßen funktionierenden Bullshit-Detektor und war schon vor Corona wieder aus den diversen Löchern hervorgekrochen. Das Abdriften in den Corona-Leugner-Wahnsinn eben dieser Persönlichkeiten und Plattformen hat mir dann recht gegeben mit diesem Schritt.

Als dann aber am 24. Feber 2022 Putins Militär in die Ukraine einmarschierte, war mir nicht nur augenblicklich klar, wer hier Täter und wer Opfer war, sondern auch das Schuldgefühl einigermaßen überwältigend.

Wie es der Zufall wollte, war ich zu dem Zeitpunkt gerade in der Anfangsphase meiner neuesten Schlafstörungsausprägung: Mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden (besonders beliebt: Punkt 4:00 Uhr) aufzuwachen und nicht mehr einschlafen zu können.

Vermutlich verursacht durch ein besonders aufreibendes bevorstehendes Projekt in der Firma (hellseherische Fähigkeiten in Bezug auf den Krieg schließe ich eher aus), aber dann angeheizt durch die frühen Kriegstage und die auf Kyiv zusteuernde russische Militärkolonne) saß ich nun also jeden Morgen um 4:00 Uhr in der Früh vor dem Computer und starrte auf die jüngsten Meldungen aus dem Kriegsgebiet.

Und ärgerte mich zunehmend über die unterschiedlichen Aussprachen der ukrainischen Städte und Gebiete: Kerson? Tscherson? Cherson? Xerson? Was denn nun? Ist es von JournalistInnen zuviel verlangt, sich wenigstens darüber schlau zu machen?

Auf der Suche nach einer Anleitung zum Lesen und Aussprechen des ukrainischen kyrillischen Alphabets stolperte ich in die kostenlose duolingo - Probephase (da gibt's tatsächlich einen Englisch/Ukrainisch - Kurs!) und ehe ich mich versah, war ich auch schon mittendrin im Ukrainisch-lernen. (Es heißt übrigens Cherson, mit einem "ch" wie in "Bach".)

Was sonst macht man in zahllosen dunklen, kalten Morgenstunden, wenn man ohnehin am Bildschirm festklebt? Und erstaunlicherweise, auch wenn ich mich überhaupt nicht zu den Sprachbegabten oder -interessierten zähle, bin ich dabei geblieben! Nun, nach mehr als einem Jahr bin ich mit der Häfte des Kurses durch, habe mein "Studium" um einige andere nützliche Quellen erweitert und erinnere mich jeden Tag daran, warum ich den Englisch- und Französischunterricht in der Schule gehasst habe.

Nein, das Sprachenlernen und ich werden keine Freunde mehr in diesem Leben, aber wenn ich schon so weit gekommen bin, will ich jetzt wenigstens die Fähigkeit erlangen, einigermaßen verstehen zu können, um was es geht, wenn sich Leute auf ukrainisch unterhalten, oder in einem Interview oder podcast in ein Mikro sprechen.

War also der Plan von Anfang an, dass ich irgendwann in die Ukraine fahre? Nein, definitiv nicht.

Wann ist die Idee entstanden? Keine Ahnung. Wie so viele andere Entscheidungen und Wendungen in meinem Leben auch, hat sich auch diese leise und heimlich in meinen Kopf geschlichen und es sich dort gemütlich gemacht.

Immer begleitet von den Gedanken: "Nein, das geht in absehbarer Zeit sowieso nicht." Dann: "Zumindest nicht, solange der Krieg nicht beendet ist."

Inzwischen wurde aber immer deutlicher, dass die Kampfhandlungen vermutlich so schnell nicht aufhören werden, vor allem weil Putin anscheinend genau darauf setzt, dass - wenn nur ER lange genug wartet, egal wie hoch die eigenen Verluste und Kosten sind - der Westen irgendwann die Ukraine fallen lassen wird. Also selbst wenn die aktuell laufende Offensive der Ukrainer ein überwältigender Erfolg werden sollte, heißt das noch lange nicht, dass der Krieg damit vorbei ist. Leider.

Also: Worauf warten? Ich werde auch nicht jünger...

Und irgendwie - und jetzt wird's ein wenig "esoterisch" (vielleicht aber auch psychologisch erklärbar), aber ich kann es nicht besser beschreiben - hat die sehr intensive Beschäftigung mit diesem Land und seinen Leuten (knapp 25 Bücher gelesen, dabei viel von ukrainischen Autoren; Podcasts, Online-Vorlesungen, Interviews,... gehört; Dokus und Filme gesehen; täglich die nächtlichen Angriffsberichte und diversen Kriegsticker gelesen) dazu geführt, dass mir ein Teil meines Bewusstseins (falsches Wort?) in Richtung Ukraine abhanden gekommen ist.

Das Mitzittern bei den unzähligen Raketen- und Drohnenangriffswellen, die Wut über zerstörte Krankenhäuser, Wohnhäuser, Restaurants, Schulen und Kindergärten und Supermärkte voller Menschen, die Fassungslosigkeit über die militärisch völlig sinnlosen Angriffe auf zivile Ziele,...

Ich hatte das Gefühl, dass ich den mir abhanden gekommenen Teil irgendwann abholen fahren muss, sonst wird mir auf ewig etwas fehlen.

[Im Übrigen hilft einem das Anhören ukrainischer Stimmen auch dabei, die Arroganz der Verschwörungstheoretiker zu erkennen, die den Menschen in diesem kriegsgebeutelten Land Souveränität und eigenen Willen absprechen, indem sie sie als von "den Amerikanern" gesteuerte Marionetten abstempeln.

Und wer sich nur ein wenig mit der Geschichte der Ukraine beschäftigt, erkennt schnell, dass der Kampf um die eigene Unabhängigkeit einer ist, der seit vielen Jahrhunderten andauert, und sich wahlweise gegen die Polen, die Osmanen, die Mongolen, die Deutschen, die Russen, eigene Landsleute, uvm. richtet. Während wir Österreicher von unserer Mentalität her Subjekte einer Monarchie waren und sind, sind die Ukrainer historisch gewachsene Freiheitskämpfer.]

Und zu guter Letzt ist es so, dass ich es mir aktuell einfach leisten kann, ein paar Wochen (Monate?) zu tun, was immer ich will.

Ich habe diesen ganzen Aufenthalt gebucht und zum Teil im Voraus bezahlt und in Kauf genommen, dass ich das ganze Geld in den Sand setze, wenn im letzten Moment doch nichts daraus wird, und es war mir herzlich egal. Und trotzdem wird noch genug da sein, um die nächste Übersiedelung zu finanzieren.

Wird es die weiseste Entscheidung meines Lebens gewesen sein, ausgerechnet in Kyiv im Sommer 2023 "Urlaub und Sprachferien" gemacht zu haben? Wahrscheinlich nicht.

Hätte ich mir gewünscht, das Ende meiner Anstellung und das Ende des Krieges wären auf wundersame Weise zeitlich zusammengetroffen, und ich könnte nun in einer friedlichen Ukraine urlauben? Natürlich, ich bin ja nicht lebensmüde.

Aber ich hätte nicht noch ein Jahr oder länger durchgehalten in der Arbeit, und wer weiß, wie lange sich der Krieg noch zieht. Und sowas kann man nur machen, wenn man Zeit hat, und die habe ich eben jetzt. Und was wir einem durchschnittlichen Ukrainer zumuten, muss auch akzeptabel für mich sein. Hier gehen täglich Kinder in den Kindergarten und zur Schule, Menschen fahren in die Arbeit, trotz allem. Ganz "normal".

* * * * * * * *

Vor ein paar Monaten kamen wir während einer Mittagspause in der Firma irgendwie auf meinen Kanada-Aufenthalt zu sprechen, und beim Erzählen diverser Abenteuer und Hoppalas fiel mir auf, wie starr und statisch mein Leben geworden war in den letzten 10 Jahren. Das Bedürfnis nach Stabilität war groß nach dem anstrengenden Auslandsjahr, aber offensichtlich bin ich - wie so oft - ins andere Extrem verfallen. Anscheinend ist es so, je festgefahrener der Alltag wurde, umso noch viel starrer wurde ich.

Und mal ganz ehrlich: Wenn man sich einen Lebensstil wie den meinen erarbeitet (?) hat, nämlich unabhängig, ungebunden und unstet, dann sollte man das hin und wieder auch ausnutzen, denn wozu hat man ihn denn? Wirklich, ich frage mich das immer wieder:

Wozu bin ich denn da? Nur zum Ressourcen verbrauchen? Den Glauben an eine "Berufung" habe ich (glücklicherweise) schon lange abgelegt, dem evolutionären Zweck der Erhaltung der Spezies habe ich mich entzogen, gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Tätigkeiten liegen mir nicht (viel zu introvertiert und eigenbrötlerisch). Gewinnmaximierung für diverse Chefitäten betrachte ich nicht als lebenssinnstiftend, und eine Karriere bedeutet mir auch nichts.

In so einem Fall muss man das Leben eben etappenweise mit Sinn füllen, und - in meinem Fall - hin und wieder auch etwas Unkonventionelles machen.

Wie dem auch sei - das ist jetzt wahrscheinlich der zu erwartende Pendelschwung, und vielleicht ist dann auch ein "itch gescratcht" und ich kann mich mit einem weiteren Jahrzehnt in der Mühle der österreichischen Industriearbeit abfinden.

Oder nicht. Who knows?


Und (jetzt aber wirklich) zu guter Letzt ist das mein persönliches FUCK YOU an Putin und all seine Anhänger und Bewunderer da draußen. Es wird sie nicht interessieren, aber mir ist es wichtig.


Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


 
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