17.10.2015

Änderung im Denken #2

ontopic

Nachdem ich das letzte Mal versucht habe, an einem Beispiel ("Es gibt nicht die EINE richtige Art zu leben.") darzustellen, wie unser Eingebettetsein in eine bestimmte Kultur unser Weltbild, unser Denken und unser ganzes Sein beeinflusst, möchte ich heute noch andere Themen aufgreifen, anhand derer Daniel Quinn dieses Phänomen zu erklären versucht.

Mir ist bewusst, dass das nicht so ganz einfach ist:

Daniel Quinn beschreibt in einem seiner späteren Bücher seine Überraschung über den großen Erklärungsbedarf, nachdem seine erste Erzählung "Ishmael" (1992) erschienen war. Seiner Meinung nach hatte er sein Anliegen klar und umfassend zum Ausdruck gebracht, die aufkommenden Fragen machten ihm aber deutlich, wie unbefriedigend ihm das gelungen war.

Deshalb gab es zwei weitere Erzählungen "The Story of B." (1996) und "My Ishmael" (1997), in denen auf unterschiedliche Weise mehr oder weniger dieselben Prinzipien dargestellt werden, und anschließend weitere Nachfolgewerke und eine Webseite mit Q&A (en.).

Mir ist also bewusst, dass die Chance, dass ICH mich hier verständlich mache, auch nicht überwältigend groß ist. Vorausgesetzt, dass ich wirklich die Message so verstanden habe, wie Daniel Quinn sie gemeint hat. Was ich hiermit also wirklich bezwecken will, ist Interesse zu wecken.


Ein Thema, dem sich Daniel Quinn ausführlich widmet, ist die Form unseres Zusammenlebens. Nach umfangreicher Recherche hat er herausgefunden, dass Menschen in "Older Cultures" typischerweise in "tribes" (= Sippen, Stämmen) zusammenlebten bzw. immer noch leben. Das kann man sowohl aus der Archäologie lernen als auch aus dem Studium von heute noch lebenden Urvölkern.

Er folgert daraus, dass dies die Form des Zusammenlebens ist, die sich evolutionär für die Spezies "Mensch" als die erfolgreichste erwiesen hat. Pferde leben in Herden, Wölfe im Rudel, Affen in Horden und Heuschrecken in Schwärmen, weil es sich bewährt hat. Für Menschen ist diese Lebensform, die sich bewährt hat, eben der "tribe".

Daniel Quinn definiert einen Stamm, eine Sippe als eine Gruppe von Menschen, die ihr Lebensunterhalt gemeinsam organisiert ("to make a living together"). Historisch bedeutete das natürlich auch, geographisch zusammen zu leben - heute gibt es Organisationen, die wie eine Sippe funktionieren, ohne dass die Beteiligten zusammen leben müssen.

Ähnlich wie in bereits vorgestellten Modellen sieht auch Daniel Quinn in kooperativen Formen der Zusammenarbeit eine Lösung für die Zukunft (zB Genossenschaften).

Als Gegenmodell hat sich die westliche hierarchische Struktur entwickelt: Die einen sagen, was passiert, und der Rest tut, was ihnen gesagt wird. Dieses Modell ist ein Balanceakt:

Unterdrückt man "die Massen" zu sehr, entlädt sich der Frust in blutigen Aufständen. Lässt man ihnen zuviele Freiheiten, ist die eigene Machtposition in Gefahr. Gelingt es, eine Illusion von Partizipation aufrecht zu erhalten, läuft die Sache so einigermaßen. Momentan ist diese Illusion gerade am Zerplatzen, habe ich so das Gefühl.

Aber zurück zum Thema: Angestoßen wurde diese Entwicklung, wie schon früher angedeutet, mit der Sesshaftwerdung und der Einführung des Ackerbaus:

Aus archäologischen Funden konnte nachgewiesen werden, dass es mit dem Aufkommen von Getreidespeichern erstmals zu qualitativen Unterschieden in Behausungen kam. Wer den Schlüssel zum Getreidespeicher in seinem Besitz hatte, hatte plötzlich Macht, während der Rest der Bevölkerung unter Druck gesetzt werden konnte, in dem man ihnen den freien Zugang zu Nahrung verwehrte.

Daniel Quinn hilft uns in "My Ishmael" (Ismaels Geheimnis), hier eine ganz einfache Unterscheidung zwischen unserer "Mother Culture" und den älteren Kulturen zu treffen:

"Dass du dich unter den Angehörigen deiner Kultur befindest, weißt du, wenn die ganze Nahrung irgendjemandem gehört. Wenn sie ausnahmslos unter Verschluss gehalten wird."

"Hmm", sagte ich. "Es ist nur schwer vorstellbar, dass es anders sein könnte."

"Aber es war einmal ganz anders. Die Nahrung war einmal genauso wenig das Eigentum von jemandem, wie die Luft oder das Sonnenlicht das Eigentum von jemandem sind. [...] Die Nahrung wegzusperren war eine der großen Neuerungen eurer Kultur. Keine andere Kultur in der Geschichte hat je die Nahrung weggesperrt - und sie wegzusperren ist der Grundstein eurer Ökonomie."

"Wie kommt das?" fragte ich. [...]

"Nun, wenn die Nahrung nicht unter Verschluss wäre, würde doch niemand mehr arbeiten, Julie." [...] Wenn du nach Singapur, Amsterdam, Seoul, Buenos Aires, Islamabad, Johannesburg, Tampa, Istanbul oder Kyoto fährst, wirst du feststellen, dass sich die Menschen dort in ihrer Kleidung, ihren Hochzeitsbräuchen, in ihrer Freizeitgestaltung, ihren religiösen Zeremonien und so weiter deutlich unterscheiden.

Aber sie alle gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass ihnen die Nahrung erst einmal vorenthalten wird. Sie gehört jemandem, und wenn du etwas haben willst, dann musst du es kaufen. [...]

Es ist für dich sicher schwer zu verstehen, wie absonderlich ihr in dieser Hinsicht seid. Du hältst es für absolut normal, dass ihr für etwas arbeiten müsst, das allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten frei zur Verfügung steht.

Ihr allein sperrt die Nahrung weg und schuftet dann, um sie wiederzubekommen - und bildet euch auch noch ein, dass etwas anderes völlig absurd wäre."


"Ja, das ist absonderlich, wie du es nennst. Aber es ist nicht allein unsere Kultur, die die Nahrung wegsperrt, sondern die Menschheit."

"Nein, Julie. Ich weiß, dass Mutter Kultur lehrt, die Menschheit hätte die Nahrung weggesperrt, aber das ist eine Lüge. Das habt allein ihr getan, eine einzelne Kultur, nicht die gesamte Menschheit."

Daniel Quinn: Ismaels Geheimnis, Seite 29f.

Hier sind wir an einem anderen Punkt, den Daniel Quinn wieder und wieder versucht, klarzumachen:

Was WIR als "die Menschheit" bezeichnen, ist eben NICHT die gesamte Menschheit. Wenn wir von der "Menschheit" reden, dann meinen wir damit eigentlich nur die Angehörigen unserer Zivilisation, unserer Kultur.

Und ja, mittlerweile gehört da ein Löwenanteil der Weltbevölkerung dazu, was aber nicht heißt, dass nicht auch andere Lebensmodelle existieren und funktionieren können - und zum Teil schon wesentlich länger als unser jüngster "Versuch" einer Kultur.

Es ist kein naturgegebenes Los der "Menschheit", dass wir uns den Zugang zu Nahrung erst erkaufen müssen.

Es ist kein naturgebenes Merkmal der "Menschheit", Land zu besitzen, oder Bäume oder Tiere.

Es ist nicht wahr, dass "Menschsein" bedeutet, dass wir immer nach Fortschritt und Wachstum streben müssen.

Es ist auch nicht wahr, dass "die Menschheit" eine auf Konkurrenz basierende Spezies ist.

Es gab - und gibt immer noch! - Völker, die nach gänzlich anderen Prinzipien leben. Kulturen, die wesentlich älter sind als diese eine, nämlich unsere Kultur.

Das Problem ist, dass die Spezies Mensch ein sehr kurzes Gedächtnis hat: Es ist völlig egal, wie lange ein Zustand schon Bestand hatte - wenn es vor meiner Zeit stattfand, dann hat es FÜR MICH nicht existiert. Was immer ich seit meiner Geburt kenne, war FÜR MICH "schon immer" so!

(So wird übrigens auch erklärt, wie es möglich war, dass zum Beispiel die Bewohner der berühmten Osterinseln den gesamten Baumbestand kahlgeschlagen hatten: Die jeweilige Nachfolgegeneration kannte den ursprünglichen Zustand ja nicht mehr. Woher sollte die xte Generation wissen, dass es früher einmal gewaltige Bäume und Wälder gab, wenn alles, was sie je zu Gesicht bekamen, verstreute Baumbestände waren?)

Was bedeutet "seit Menschengedenken" für uns? Wir denken dabei nicht zurück bis an die Anfänge unserer Spezies - in Wahrheit rechnen wir höchstens wenige tausend Jahre zurück, etwa seit es schriftliche Aufzeichnungen gibt. Menschen, die biologisch genau so sind wie du und ich, gibt es aber seit mindestens 200.000 Jahren - wie lang ist also so ein "Menschengedenken"? Was wissen wir noch von "früher"?

Die Zeit davor existiert in unserer Geschichtsschreibung nicht wirklich: 200.000 Jahre lang passierte erst mal nichts, und dann endlich fand "die Menschheit" zu ihrer Bestimmung und schuf diese unsere Zivilisation, Kultur. Es erinnert ein wenig an diese unselige Formulierung etwa bei der Verleihung eines Titels: "Jetzt bist du endlich jemand!" Wenn ich jetzt erst "jemand" bin, war ich denn vorher niemand?

Wenn "die Menschheit" und unsere Geschichtsschreibung erst vor wenigen tausend Jahren begann, waren wir vorher denn niemand? Wer hat dann vor mehr als 40.000 Jahren die ältesten Höhlengemälde (süddeutsche.de) gemacht, wenn nicht Angehörige der "Menschheit"? Warum scheuen wir uns, soweit zurück zu blicken, wenn wir Lösungen suchen?

In Urwäldern auf diesem Planeten leben immer noch Völker relativ unbeeinflusst von unserer Kultur - zählen die nicht zur "Menschheit"? Und wenn diese Menschen ganz andere Lebensmodelle und Werte haben, wie kommen wir dann dazu, allein UNSER Verhalten als "typisch Mensch" zu bezeichnen?

Es ist schon interessant:

Wenn man typische Verhaltensweisen von beispielsweise Pferden studieren will, dann macht man das an möglichst "wilden", undomestizierten Tieren. Niemand würde auf die Idee kommen, ein einzelnes Pferd in einen Stall zu sperren, und dessen Verhaltensweisen dann als "typisch Pferd" zu beschreiben.

Weil man eigentlich weiß, dass sich artspezifische Verhaltensweisen dann am besten beobachten lassen, wenn sich das Versuchsobjekt in einem natürlichen Lebensraum befindet. Und man würde verschiedenen Gruppen studieren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen.

Nur für den Menschen gilt das alles nicht - was übrigens auch ein Thema in Daniel Quinns Büchern ist: Was für den Rest der "Natur" gilt, gilt für den Menschen nicht. Irgendwie, auf wundersame Weise, steht die Spezies Mensch über den Dingen, ist auf "die Natur" nicht angewiesen. Als ob wir nicht Teil der Natur wären. Wie kann man "zurück zur Natur" wollen? Wir sind doch Teil der Natur!


Bevor ich mir hier den Mund fusselig rede bzw. die Finger wund schreibe: Selber lesen und nachdenken! Teil 1 "Ismael" ist überall erhältlich, während Teil 3 "Ismaels Geheimnis" schwer zu bekommen ist - ich habe davon eine (wahrscheinliche illegale) pdf-Version gefunden: Download!.

Ich finde das alles sehr faszinierend.


 
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