19.12.2017

Moral. Regeln.

ontopic

« previous

next »

  Das sind zwei Themen, die mir schon seit einer Weile im Kopf herumgehen und darauf warten, in Beiträgen verschriftlicht zu werden. Im Geiste von "Aufräumen, bevor es ins neue Jahr geht" werde ich das nun versuchen.

Das Problem ist allerdings, dass ich nicht weiß, ob meine Gedanken zusammenhängend und ausgereift genug sind, um einen sinnvollen Text mit irgend einem Fazit am Ende zu formulieren. Auch weiß ich (noch) nicht, ob es Sinn macht, die beiden Konzepte in EINEN Text zu pressen.

Wir werden sehen, und wenn es nicht klappt, dann habe ich immer noch die Option, das Ergebnis nicht zu veröffentlichen.

Sollte dieser Fall eintreten, wird allerdings niemand je davon erfahren wird, weshalb der oben stehende Absatz etwas unnötig ist. Naja.


Moral

Wenn man Menschen in der Öffentlichkeit (besonders im Fernsehen) die "Moral" beschwören hört, dann bekommt man gerne den Eindruck, dass es sich dabei um einen universell gültigen, absoluten Verhaltenskodex handelt: So handelt "man" eben, wenn man auf der richtigen Seite der Geschichte landen will.

Schon da sehe ich dann für gewöhnlich rot und schalte (zumindest geistig) ab, denn wir alle wissen, dass unsere Moralvorstellungen fast so wandelbar sind wie das Wetter:

Was noch vor ein paar hundert Jahren (oder nur Jahrzehnten) moralisch in Ordnung war, lehnen wir heute ab (körperliche Gewalt in der Kindererziehung). Oder umgekehrt (Homosexualität).

Es gab bestimmt Inquisitoren, die sich mit der Hexenverfolgung moralisch im Recht fühlten und und Missionare, die tatsächlich meinten, das Richtige zu tun, wenn sie den Natives in Kanada ihre Kinder wegnahmen, um sie in christlichen Schulen zu "erziehen" und ihnen gewaltsam die eigene Kultur und Sprache abzugewöhnen.

Wir nehmen als selbstverständlich hin, dass im Kriegsfall andere Regeln gelten als in Friedenszeiten ("Du sollst nicht töten."), wir nehmen hin, dass im Zweifelsfall doch nicht alle Menschen gleich(wertig) sind.

Und wenn sich Voraussetzungen ändern, dann werden die moralischen Ansprüche problemlos einfach angepasst - oder wie genau ist "Drohnenkrieg" sonst mit den "westlichen Moralvorstellungen" in Einklang zu bringen?

Praktisch ist es so, vor allem im großen Maßstab, dass die moralischen Vorstellungen den unmittelbaren Interessen untergeordnet sind.

Ich bin mittlerweile soweit, dass man mir mit "Moral" überhaupt nicht mehr zu kommen braucht - was fängt man mit einem Begriff an, der an Schwammigkeit und Wandelbarkeit kaum zu überbieten ist? Das Beschwören von Moral wird doch oft zur Manipulation eingesetzt, um Menschen mit anderen Meinungen auf Linie zu bringen.

An den moralischen Vorstellungen zu rütteln oder die Aufrichtigkeit derer zu hinterfragen, die sie ins Spiel bringen, ist ein no go. Immerhin sind "wir" die Guten, unsere Moralvorstellungen über Jahrhunderte gereift und eindeutig die am höchsten entwickelten und besten. Bloß nicht daran rütteln!

Was wir auch nicht vergessen dürfen: Wir Menschen sind die einzigen, die eine "Moral" entwickelt haben - Tiere und die Natur tun das nicht, sie handeln "unmoralisch", also instinktiv. Pfui bäh.

Meine These ist ja: Dass wir Menschen als einzige eine Moral entwickelt haben, war keine besondere Leistung eines höheren Bewusstseins, sondern eine Notwendigkeit, weil uns etwas abhanden gekommen ist.

Jede Spezies hat innewohnende Verhaltensmuster, die funktionieren, die über tausende von Jahren hinweg funktioniert haben - sonst wäre sie nicht hier, sondern ausgestorben. So auch der Mensch.

Der Mensch hat es geschafft, sich diesen artspezifischen, innewohnenden Instinkt zum guten Zusammenleben abzugewöhnen, und ist immer tiefer ins Schlamassel gerutscht: Unterdrückung, Sklaverei, Ausbeutung, Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage, Massaker, Kriege.

"Moral" ist die Krücke, das zu ersetzen, was wir natürlicherweise haben sollten: Das (nicht intellektuelle, sondern instinktive) Wissen, wie man dauerhaft als Gruppe untereinander und im Miteinander mit der Umwelt leben kann.


Natürlich liegt mir fern, moralisches Handeln als solches zu verdammen oder abzuschaffen. Und solange unsere Weltordnung, das Wirtschaftsystem und unsere Erziehung zutiefst traumatisierte, beziehungsgestörte und unempathische Menschen hervorbringt, ist es beruhigend zu wissen, dass es äußere Konventionen gibt, an denen wir unser Handeln orientieren können.

Aber man verschone mich bitte mit auch nur einem Hauch einer Andeutung, dass UNSERE moralischen Vorstellungen die richtigen sind. Das kommt immer auf den Kontext an und vor allem auch darauf, an welchem Ende des Einfluss- oder Reichtumsspektrums man sitzt, ob man austeilt oder einstecken muss.


Regeln

Wie auch die Moral sind Regeln (Verhaltensregeln, Gesetze) relativ willkürlich festgelegt und im Lauf der Zeit an neue Gegebenheiten angepasst worden, oft hart umkämpft. Je größer die Gruppe, deren Zusammenleben organisiert werden muss, je komplexer die Beziehungen untereinander (wirtschaftlich, Abhängigkeiten), umso umfassender - und undurchschaubarer - werden im Allgemeinen die Regeln.

Wie auch bei der Moral wissen wir eigentlich, wie nicht-allgemeingültig Regeln eigentlich sind, im Alltagsgebrauch vergessen wir das aber gerne und bekommen den Eindruck, wir haben es mit Naturgesetzen oder "gottgebenen", in Stein gemeißelten Prinzipien zu tun.

Wenn ich bei mir selbst anfange, dann glaube ich kommt das auch daher, dass wir als Kinder explizit lernen, Regeln NICHT zu hinterfragen. Ob zuhause oder in der Schule: Regeln sind nicht dazu da, hinterfragt und diskutiert, sondern befolgt zu werden. Hält man sich an dieses Prinzip, ist man das gute, brave Kind, tut man das nicht, gehört man zu den Problemfällen, die auf Linie gebracht werden müssen, damit man sie später ins Arbeitsleben integrieren kann.

Kurzum: Was wir im Normalfall NICHT lernen ist, Regeln zu hinterfragen. Wir werden im Gegenteil dafür belohnt, sie ungefragt zu befolgen.

Von daher ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder ganze Gesellschaften auf Abgründe zusteuern, obwohl es offensichtlich sein müsste. "Es war halt immer so", und "so sind die Regeln".

Besonders auffällig war das im Zusammenhang mit der Griechenland - Situation: Yanis Varoufakis' war als griechischer Finanzminister damit konfrontiert, dass seine europäischen Kollegen auf Einhaltung der Regeln beharrten, anstatta alternative Lösungen zuzulassen, die realistisch waren und allen Beteiligten genutzt hätten.

Der Hintergrund war (lt. Varoufakis), dass der Euro als Schönwetterwährung konzipiert war mit Regeln, die im Fall einer Krise weder einhaltbar noch hiflreich sind. Seine durchaus vernünftige Position lautet:

Regeln sind dazu da, uns zu dienen - nicht umgekehrt!


Und wenn sie das nicht tun, dann brauchen wir eben neue Regeln! Das wäre also EIN Weg, mit unbrauchbaren Regeln umzugehen - das setzt aber voraus, dass a) die Regeln tatsächlich dazu da sind, um das Bestmögliche für alle zu gewährleisten und b) auch alle ein Interesse am Lösen des Problems haben.

In der Praxis ist natürlich oft der Fall, dass Regeln von Mächtigen, Reichen oder Mehrheiten aufgestellt wurden, um ihre jeweiligen Privilegien zu sichern. Die Chance, die Regeln geändert zu bekommen, vor allem kurzfristig, ist zwangsläufig recht gering und kann meist nur mit großem Aufwand erkämpft werden.

Ein zweiter Weg, um mit unfairen Regeln umzugehen, ist... schummeln! Das erfordert allerdings die Fähigkeit einschätzen zu können, wie groß die Gefahr des Erwischtwerdens ist und ob die möglichen Konsequenzen es wirklich wert sind.

Leitlinie sollte natürlich trotzdem bleiben: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg' auch keinem ander'n zu. Wofür die meisten geistig gesunden Menschen wohl auch ein gutes Gespür haben, im großen und ganzen.

Das Spannende an diesem Ansatz ist, dass mir dieser Zugang völlig fremd ist/war, und immer noch ungeheuerlich erscheint: Es ist tatsächlich möglich, das Nichtbefolgen einer Regel damit rechtfertigen, dass sie unfair ist oder unbrauchbar?

Das geht???

Ohne sich schuldig zu fühlen, ohne das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben? Wahnsinn.


Dieses Prinzip (Regeln sind dazu da, um befolgt zu werden. Das Brechen von Regeln ist falsch. Punkt.) ist in mein Gehirn anscheinend so eingraviert, dass die bloße Idee, es könnte in Ordnung sein ("erlaubt"!?), eine Regel nicht zu befolgen, völlig unwirklich erscheint. Als ob ich in einer Box feststecke, über deren Rand mein Verstand nicht hinausschauen kann.

Es geht ja noch weiter: Auch wenn ich mit dem Brechen einer Regel vielleicht gegen den allgemeinen Verhaltenskodex (oder das Gesetz) verstoße, kann ich trotzdem - menschlich betrachtet - richtig handeln, also moralisch im Recht sein.

Das muss ich erst noch sickern lassen...


Wie unschwer zu erkennen ist, gehöre ich zu den "braven Kindern", als Revoluzzerin bin ich also in der Praxis relativ unbrauchbar. Aber auch wenn aus mir wahrscheinlich keine Rosa Parks (wiki) mehr wird, gebe ich die Hoffnung noch nicht ganz auf:

Ungehorsam ist hoffentlich erlernbar!


« home
« previous
» archives «
next »